Interview, veröffentlicht in Sport in BW, Ausgabe Februar 2024, Seiten 12 - 15
Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG): Das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) wird ab dem Schuljahr 2026/2027 in Kraft treten. Was ist denn konkret im Gafög geregelt und welche Auswirkungen erwarten Sie für die Sportlandschaft in Nordbaden?
Das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) legt fest, dass ab dem Schuljahr 2026/27 stufenweise ein Rechtsanspruch auf eine ganztägige Förderung für alle Kinder im Grundschulalter eingeführt wird. Das bedeutet, dass jedes Kind von der ersten bis zur vierten Klasse einen Anspruch auf Betreuung mit der Dauer von täglich 8 Zeitstunden an 5 Werktagen pro Woche hat, auch in den Ferienzeiten.
Die Ganztagsbetreuung setzt sich zusammen aus dem Unterricht sowie aus Hort- und anderen Betreuungsangeboten vor- und nachher. Diese Betreuung vor und nach dem Unterricht sowie in Ferienzeiten kann von unseren Sportvereinen angeboten bzw. unterstützt werden. Es eröffnet sich damit also ein neues Wirkungsfeld für die Vereine, das zugleich mit Herausforderungen verbunden ist: Werden Sportstätten am Nachmittag zukünftig durch schulische Angebote belegt sein und stehen dem Vereinssport nicht mehr zur Verfügung? Können Kinder die bisherigen Vereinssportangebote am Nachmittag dann überhaupt noch wahrnehmen? Antworten auf diese Fragen werden sicherlich erst im Laufe der Zeit gefunden werden können.
Positive Effekte und Chancen: Auf der positiven Seite, welche Effekte und Chancen sieht der BSB Nord durch das GaFöG für den Sport in Nordbaden? Gibt es Möglichkeiten, wie Ihr Verband vielleicht sogar davon profitieren kann?
Wir alle wissen, welch große Bedeutung Sport und Bewegung für unsere Gesunderhaltung spielen und dass man gar nicht früh genug damit beginnen kann, das Bewusstsein hierfür zu schärfen. Körperliche Aktivität schult bei Kindern die Wahrnehmung und durch Bewegung wird die Bildung von Nervenzellen im Gehirn angeregt. Kinder, die regelmäßig sportlich aktiv sind, können sich nicht nur besser konzentrieren und lernen, sondern stärken damit auch Immunsystem, Herz-Kreislaufsystem, Stoffwechsel, Muskulatur, Lunge und Knochen. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt deshalb eine tägliche Aktivitätszeit von mindestens 60 Minuten pro Tag und mahnt in aktuellen Statistiken zugleich an, dass sich bereits heute 80% der Kinder zu wenig bewegen!
Durch die künftig verlängerten Betreuungszeiten und den damit verbundenen Eingriff in die bisherige Nachmittagsfreizeit haben Schulen eine besondere Verantwortung dafür, den hohen Stellenwert von Bewegung und Sport für die Gesundheit der Kinder sicherzustellen. Der Einbezug der Sportvereine in die Betreuungsangebote eröffnet den Schulen dabei die Möglichkeit, nicht nur Sportangebote vorzuhalten, sondern den Schülerinnen und Schülern das extrem förderliche und notwendige Lernumfeld zu bieten, das Sporttreiben im Verein letztlich auch ausmacht: Beim Vereinssport stehen neben der motorischen Förderung Werte wie Toleranz, Fair Play und Gemeinschaft im Vordergrund und er bietet Zugangschancen zum Sport für ALLE – ungeachtet von Elternhaus, Herkunft oder körperlichen Beeinträchtigungen.
Einfluss auf die Vereinslandschaft: Inwiefern erwartet der BSB Nord, dass das GaFöG die Struktur und Aktivitäten der Sportvereine in Nordbaden beeinflussen wird? Gibt es Anpassungen oder Neuausrichtungen, die Ihrer Meinung nach notwendig sein könnten?
Ganz sicher wird es keine radikale Veränderung der Vereinslandschaft mit Inkrafttreten des GaFöG im Sommer 2026 geben. Eine schleichende Entwicklung, an deren Ende in den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren die vermehrte ganztägige Gebundenheit der Kinder im Grundschulalter bis hinein in die Schulferienzeiten als Normalität steht, erwarten wir aber schon. Hier bleibt natürlich abzuwarten, in welchem Umfang die Eltern die ganztägigen Angebote für ihre Kinder in Anspruch nehmen werden, wir gehen aktuell davon aus, dass die Anzahl der Kinder im institutionellen Ganztagsbetrieb deutlich steigen wird.
Damit verändern sich auch für unsere Sportvereine die Rahmenbedingungen. Es wird an den einzelnen Standorten zu prüfen sein, ob Vereinstraining in der schulfreien Zeit am frühen Abend von einer ausreichend großen Anzahl von Kindern überhaupt noch wahrgenommen wird und ob dafür Sportstätten zur freien Verfügung stehen. Wenn bei deren Belegung künftig schulische Veranstaltungen vorrangig bedient werden, werden die für den „klassischen“ Vereinssport realistisch verfügbaren Zeitfenster deutlich knapper.
Die kooperative Zusammenarbeit von Sportvereinen mit Schulen und Betreuungseinrichtungen wird vor diesem Hintergrund komplett neu zu denken sein. Wir erwarten, dass sich viele Vereine neben ihrer ursprünglichen Ausrichtung verstärkt in Richtung sozialer Dienstleister entwickeln müssen, verbunden mit den dann notwendigen Professionalisierungsnotwendigkeiten und Ressourcenbedarfen.
Herausforderungen und Kritikpunkte: Gibt es aus Sicht des BSB Nord Herausforderungen oder Kritikpunkte bezüglich des GaFöG, die Sie gerne hervorheben möchten?
Die Herausforderungen für Vereine sind in meiner vorherigen Antwort schon angeklungen. Hervorheben möchte ich explizit, dass es im Moment noch an klaren Strategien, konkreten Vorgaben und Planungen zur Umsetzung eines solch weitreichenden Rechtsanspruchs fehlt. Die Frage, wie eine Umsetzung des GaFöG unter Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit der betroffenen und beteiligten Personen und Organisationen realistischerweise aussehen kann, hätte in den wesentlichen Zügen vor der Verabschiedung eines solchen Gesetzes erfolgen sollen.
Die Sportvereine, die seit vielen Jahren den außerunterrichtlichen Schulsport (auch im Ganztag) kompetent und verantwortlich mitgestalten, müssen als Teil des jeweils zu gründenden kommunalen Bildungsnetzwerks als erster Ansprechpartner für ihr Themenfeld unbedingt einbezogen werden. Von ihnen nun aber zu erwarten, dass sie sich ohne weitere Förderung und Unterstützung „einfach“ mehr in die Betreuungsangebote einbringen als bisher, wäre eine verfehlte Erwartungshaltung.
Vielmehr muss nun alle (politische) Anstrengung unternommen werden, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass der Rechtsanspruch, den der Staat als Bundesgesetz verabschiedet hat, von all seinen nachgeordneten Ebenen systematisch umgesetzt werden kann. Diese Rahmenbedingungen müssen insbesondere vor dem Hintergrund des bereits bestehenden Engpasses an pädagogischen und sonstigen Fachkräften ausnahmslos förderlich sein, um alle Partner rund um das Schulsystem zum Mitmachen zu motivieren. Sportvereine haben den Rechtsanspruch im engeren Sinne nicht umzusetzen, ohne sie ist ein gutes Gelingen im Blick auf Sport und Bewegung jedoch schwerlich vorstellbar.
Position des BSB Nord: Wie positioniert sich der Sport in Baden-Württemberg und der BSB Nord vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen und Chancen in Bezug auf das GaFöG? Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen dem BSB Nord und dem LSVBW aus?
Weil wir von den vielfältigen positiven Wirkungen nicht nur des Sports, sondern auch der Organisationsform Verein zutiefst überzeugt sind, möchten wir alles dafür tun, um Vereine und Verbände in die Lage zu versetzen, Kooperationen mit Schulen (und Kindertagesstätten) auszubauen und Organisations- und Personalentwicklung voranzutreiben. Mit dem Ziel, starke kommunale Sport- und Bewegungsnetzwerke zu bilden, wird sich die nächste BSB.Plattform am 15.05.2024 getreu dem Motto „Gemeinsam.Stark.Vernetzt“ dem Thema Ganztagsförderung widmen.
Es ist uns dabei wichtig zu verdeutlichen, dass es nicht (allein) das Anliegen von Vereinen und Verbänden sein kann, dass sich unsere Kinder ausreichend bewegen. Dies sicherzustellen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und unabdingbar notwendig für die förderliche und gesunde Entwicklung von Kindern.
Und das gilt umso mehr, wenn Kinder durch die zunehmende Institutionalisierung einen Großteil ihres Tages in dem organisierten Rahmen der Ganztagsbetreuung stecken. Derjenige, der die Rahmenbedingungen hierfür setzt, hat die Verantwortung und die Pflicht, dass ein gesundes Aufwachsen möglich ist und eine bewegungsförderliche Schulumwelt geschaffen wird: vom pädagogischen Konzept des Ganztags über die Qualifizierung des eingesetzten Personals, bis hin zur bewegungsfreundlichen Gestaltung von (schulischen) Räumen. Bewegung, Spiel und Sport müssen unverzichtbare Bestandteile des schulischen Bildungsangebots sein und von Anfang an bei der Ausgestaltung des Ganztags mitbedacht werden, denn sie sind ein Kinderrecht! Handlungsleitend hierfür sollten als Mindeststandard die WHO-Empfehlungen sein.
BSB Nord und LSVBW, mithin der organisierte Sport in BW arbeiten in diesem Handlungsfeld mustergültig zusammen. Im LSV haben wir unsere Positionen gemeinsam abgestimmt und arbeiten nun in engem Schulterschluss daran, für deren Umsetzung zu werben – nach innen wie außen.
An die Politik: Welche konkreten Anliegen und Empfehlungen würde der BSB Nord an die politischen Entscheidungsträger richten, um eine erfolgreiche Einbindung der Sportvereine im Rahmen der GaFöG-Umsetzung zu ermöglichen?
Neben den eben schon genannten allgemeinen Grundlagen benötigen wir eine sinnvolle Gestaltung der Infrastruktur und einen förderlichen organisatorischen Rahmen, wie bspw. überschaubare Gruppengrößen und eine gute Koordination und Einbindung der Angebote.
In Bezug auf die einzelnen Vereine müssen wir nach deren Größe, geografischer Verortung, Zielsetzung und Potentialen differenzieren und dafür passgenaue Anreize schaffen. Nur so können diese umfangreichen Betreuungszeiten einerseits abgedeckt und die vielfältigen Wirkungen des (Vereins-)Sports andererseits erhalten werden. Wir denken dabei aktuell in drei großen Szenarien, die auf unterschiedliche Vereinscluster gerichtet sind:
- Für die große Anzahl unserer eher kleinen und in der Regel rein oder überwiegend ehrenamtlich organisierten Vereine bedarf es zweierlei: Es muss sichergestellt sein, dass Kinder, die Mitglied in einem Verein sind, während der Betreuungszeit einen verbrieften Rechtsanspruch haben, offizielle Vereinstrainings zu besuchen. Alle damit verbundenen Fragen und Probleme wie bspw. Transport und Aufsichtsfragen sind im Vorfeld zu lösen! Diese Maßnahme kommt einer Überlebensgarantie unserer kleinen Sportvereine in ihrer derzeitigen Verfasstheit gleich und hilft zugleich, die Betreuungsangebote attraktiv zu gestalten. Um weitere Kinder an Bewegung und Verein heranzuführen, ist eine Aufstockung des Kooperationsmodells Schule-Verein notwendig. Für das Schnuppern und die interessengeleitete Wahl der Sportart ist dieses seit Jahrzehnten bestehende Modell nach wie vor ein geeignetes Förderprogramm.
- Für professionell agierende Vereine bedarf es eines komplett neuen verbindlichen Förder-Modells für hauptamtliche Mitarbeit in Ganztagsschulen und in der Ganztagsbetreuung in Anlehnung an das „Modell der verlässlichen Kooperation“. Hier steht die Unterstützung des Sportangebots an Schulen und in den Betreuungszeiten im Fokus, das einerseits einen professionellen Anspruch hat, andererseits die Kompetenzen des Sportvereins einbringt und darüber hinaus zugleich den hohen sportpädagogischen Ansprüchen genügt. In diesem Segment sollten auch Qualitätsstandards in Bezug auf das einzusetzende Personal entwickelt werden.
- Dazwischen liegen Vereine, die insbesondere über Freiwilligendienste und andere Formen der nebenberuflichen Mitarbeit den Schulen eine semiprofessionelle Unterstützung bieten können. Die Freiwilligendienste sollten hier ebenso wie „Sport in der Schule“ ausgeweitet und ggf. weitere Fördermodelle entwickelt werden. Inwieweit (FSJ-)Kräfte den häufig personalintensiven schulischen Sportbereich unterstützen können, sollte ergebnisoffen geprüft werden.
Leistungssportliches Engagementmuss in allen Umsetzungsvarianten des Ganztages intensiv mitgedacht und ermöglicht werden.
Darüber hinaus bedarf es einer Klärung der Frage, ob die Qualifizierung der im Ganztag tätigen Personen von den Verbänden erbracht werden soll. Hierfür existieren derzeit keinerlei Ressourcen. Ohne eine personelle und finanzielle Kalkulation sowie die Finanzierung durch die öffentliche Hand sind Qualifizierungsmaßnahmen durch die Verbände aktuell nicht umsetzbar.
Unterstützung für Vereine: Wie plant der BSB Nord, seine Mitgliedsvereine und -verbände bei der Umsetzung des GaFöG zu unterstützen? Gibt es konkrete Maßnahmen oder Ressourcen, die zur Verfügung gestellt werden?
Der BSB Nord hält ein breit gefächertes Unterstützungsangebot bereits vor: Die bereits erwähnte BSB.Plattform bietet beispielsweise unter dem Motto „gemeinsam, stark, vernetzt“ ein Veranstaltungsformat, bei dem haupt- und ehrenamtliche Vereinsvertreter nicht nur miteinander, sondern auch mit den anderen Stakeholdern in den Austausch kommen können.
Sportpolitische Beratung und Unterstützung auf allen Ebenen, von Sportkreisen über BSB bis hin zu LSV, ist für uns ebenso selbstverständlich wie das Vorhalten eines breiten Informationsangebots.
Zusammen mit den Fachverbänden zählt der Badische Sportbund zu den größten Bildungsträgern im Land – mit vielfältigen Seminaren und Lehrgängen zur Aus- und Fortbildung für Übungsleiter, Trainer, Verantwortliche in der Jugendarbeit oder Führungskräfte in der klassischen Vereinsarbeit. Die Qualifizierungsangebote richten sich an alle Personen, die den organisierten Sport tragen. Über Notwendigkeit und Bedingungsfaktoren zur Ausweitung dieses Angebots habe ich ja bereits etwas gesagt. Präsidium als auch die hauptamtlich im BSB Engagierten gehen in Abhängigkeit der weiteren politischen Entscheidungen bzgl. der konkreten Umsetzung des GaFöG offen in die Entwicklung von weiteren Beratungs- und Bildungsmaßnahmen.
Langfristige Perspektive: Wie sieht der BSB Nord die langfristige Perspektive des organisierten Sports in Nordbaden im Kontext des GaFöG? Welche Entwicklungen oder Veränderungen sind aus Ihrer Sicht zu erwarten?
Um hier eine verlässliche Antwort geben zu können, würde es wohl einer Kristallkugel bedürfen. Im Wesentlichen wird die langfristige Perspektive davon abhängen, wie die Forderungen an die politischen Entscheider, die ich vorher benannt habe, umgesetzt werden können.
Unsere Sportvereine zeichnet aus, dass sie von einer ausgesprochenen Wandlungsfähigkeit zeugen. Äußere Zwänge, neue Sportarten, veränderte Sportinteressen führten im Laufe der Jahrzehnte immer wieder zu organisatorischen Konsequenzen und immer wieder haben die Impulsgeber in den Vereinen die richtigen Ideen zur Zukunftssicherung des Vereinswesens gehabt. Nicht zufällig hat die Deutsche UNESCO-Kommission „Gemeinwohlorientierte Sportvereinskultur” in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen.
Je intensiver einem Sportverein das Zusammenspiel von Enttraditionalisierung und Spürsinn für die neuen Herausforderungen, die ich beschrieben habe, gelingen wird, desto besser werden seine Erfolgschancen. Ich bin zuversichtlich, dass die Vereine in dem für sie je eigenen Maße die gesellschaftlichen Entwicklungen, die veränderte Lebenswelt der Kinder und damit auch die anders geartete Sportwelt bei der Organisation ihrer Angebote berücksichtigen werden und sich dem Ideen- und Innovationswettbewerb stellen.